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  • Katja aus unserer Tyrolia-Filiale in Innsbruck empfiehlt:

    Katja ist Buchhändlerin in unserer Tyrolia-Filiale in der Maria-Theresien-Straße in Innsbruck und leidenschaftliche Leserin.

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  • Treibgut von Julien Green

    „Treibgut“ lautet eine der interessantesten Neuentdeckungen dieses Frühjahrs: Das Meisterwerk des amerikanisch-französischen Schriftstellers Julien Green ist nun neu übersetzt und auf Deutsch veröffentlicht worden. Das Verdienst, diesen Klassiker – der nichts an Aktualität verloren hat – mit seiner faszinierenden Sprache und Sogkraft lesen zu dürfen, kommt dem Hanser Verlag zu; und er scheint genau die richtige Zeit für die Neuauflage getroffen zu haben, denn ist im Augenblicke nicht ebenso – wie zu Erscheinen des Buches 1932 - die Kriegslage in Europa bedrohlich? Außerdem zeugt der Nahostkonflikt von einer instabilen Welt, die die bürgerlichen Werte zu erschüttern scheint.
    In „Treibgut“ ist der Protagonist Philippe, der nachts am Ufer der Seine in Paris spaziert und zu feige ist, um einer Frau, die augenscheinlich in Lebensgefahr ist, zu Hilfe zu kommen, Emblem einer untergehenden Gesellschaft. Das Drama dieser gescheiterten Existenz wird verstärkt durch die unglückliche Beziehung zu seiner Frau Henriette, die er nicht liebt, und zu seiner Schwägerin Eliane, die ihn heimlich begehrt. Das Leben von Philippe Cléry, der Hauptfigur, treibt ziellos dahin…– eben wie das titelgebende „Treibgut“: Der gähnenden Leere seines luxuriösen Daseins hat er nichts entgegenzusetzen, es scheint ohne Halt und Sinn. In der Beschreibung des greifbaren Unglücks findet Julien Green eine wunderbare Sprache, die die Atmosphäre und das Milieu einzigartig auffängt: Eine innere und äußere Welt, die aus den Fugen geraten ist, aber dennoch vor der Wirklichkeit die Augen verschließen will. Green selbst schreibt, während der Verfassung des Romans 1930: „Die Nachrichten aus Deutschland haben mich in eine düstere Stimmung versetzt. Unruhen im Rheinland. Wie an einem Roman arbeiten, während der Friede bedroht ist?“ Die äußere Bedrohung Europas am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wird durch die „Ménage-à- trois“, das Dreiecksverhältnis der Figuren, gespiegelt, die einen gemeinsamen Haushalt führen, geprägt durch Gleichgültigkeit und Hass auf der einen Seite wie durch Begehren und unterdrückte Leidenschaft auf der anderen: „Mit der Geduld von Ameisen – schreibt Green -, die auf den Ruinen ihres verwüsteten Baus arbeiten, errichteten sie von neuem eine fiktive Ordnung und verbrauchten dafür die gesamte gute Laune, zu der sie fähig waren.“
    Philippe, Henriette und Éliane sind Vertreter eines kraftlos gewordenen Bürgertums geworden, das längst vor dem Abgrund steht. So wollte Green seinen Roman ursprünglich „Crépuscule /Dämmerung“ nennen: „Doch wessen Dämmerung? Des Bürgertums natürlich.“, erläutert der Autor 1931: „Nach einigem Nachdenken entschied ich mich für L´épave /Das Treibgut. Das Treibgut ist die ertrunkene Frau im ersten Kapitel; es ist aber auch die Hauptperson…“ Philippe ist es, der sich treiben lässt, gequält vom Gedanken: Würde er sich überhaupt verteidigen, bei einer Revolution; hat er es verdient, gerettet zu werden? – Es ist das verstörende Psychogramm einer zur Handlung unfähigen Seele; ein Mensch, der sich selbst beim Leben zusieht und dahintreiben lässt. Julien Green taucht ein in die Abgründe der menschlichen Seele, wobei er auch uns Lesenden viel über die Gegenwart mitzuteilen weiß. Es lohnt sich, diesen bedeutenden und sprachlich außerordentlich gelungenen Roman neu zu entdecken, um der allzu gemütlichen Gefahr zu entgehen, mit dem Strom der Allgemeinheit zu schwimmen, einem Treibgut gleich, das keine Kraft hat, sich zu widersetzen. Eine unbedingte Lese-Empfehlung also, die düster anmutet, aber gewinnbringend sein wird: „Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muss auch die Nacht kennenlernen“ (Albert Camus).